Blick auf die Stadt

von Johann Haslauer

Zur Stadtlage 2004

Die Stadt ist 800 geworden. Ein solches Jubiläum ist naturgemäß Anlaß für Rückblicke. Es sollte aber in gleicher Weise Anlaß sein, auf die Gegenwart und vielleicht sogar in die Zukunft zu blicken und auch prinzipiellere Überlegungen zum Thema Stadt und Urbanität anzustellen. So ist es Absicht in diesem Projekt StadtLAge2004, Blicke auf die Stadt anzuregen, Anregungen zu geben für die Wahrnehmung und die Selbstwahrnehmung dieser Stadt und dieses Raumes und die Frage zu stellen nach der Identität des Raumes und der Stadt, die sich da selbst feiert.
Doch zunächst einige Schlaglichter auf die Stadt der Gegenwart. Aus Sicht der Stadtforschung ergibt sich folgende Situation:
„Die Größe ihrer Bevölkerung, die Dichte ihrer Bauweise, die Mischung der sozialen Gruppen und der städtischen Funktionen, das unüberschaubare und enge Mit- und Nebeneinander von Arm und Reich, Jung und Alt, Zugezogen und Eingesessen, von Arbeiten, Wohnen, Vergnügen und Verkehr macht die europäische Stadt zum Ort der Kommunikation, der Arbeitsteilung, der Erfahrung von Differenz, der produktiven Auseinandersetzung mit Fremden und damit zum innovativen Ort.“ So der OldenburgerStadtforscher Walter Siebel, der weiter sagt:
„Aber alle diese Merkmale unterliegen dem sozialen Wandel; sie ändern ihre Ausprägung, verlieren ihren Zusammenhang oder verschwinden gänzlich. Solange der Bewohner einer Stadt an seinem Wohnort auch zur Arbeit geht, seine Kinder zur Schule schickt, das Theater besucht und die Verkehrsmittel benutzt, so lange existiert eine Stadtbürgerschaft, die in sich selber die Konflikte von Arbeiten, Wohnen, Erholen und Verkehr austragen muss. Heute aber organisieren mehr und mehr Bürger ihren Alltag automobil über verschiedene Gemeinden hinweg: man wohnt in A, arbeitet in B, kauft ein in C und fährt durch D mit dem Auto. Also sehen sich die Gemeinden Kunden gegenüber, die sehr spezifische Leistungen verlangen: von A ungestörtes Wohnen, von B einen expandierenden Arbeitsmarkt, von C genügend Parkhäuser an der Fußgängerzone und von D Schnellstraßen.“ (1)
Da ist andererseits unsere Fixierung auf unsere traditionelle Stadt, die wir in Landshut heuer feiern, auf die wir uns als unseren Lebensraum beziehen, die Teil ist unserer Identität und die selbst Identität besitzt. Doch unser Bild der Stadt bedarf der Überprüfung. Was wir als Stadt erleben, ist nicht mehr die Stadt von früher. Denn – so Walter Siebel:
„Die Entfesselung des Verkehrs hat den Prozess ermöglicht, den die europäische Stadt des 20. Jahrhunderts geprägt hat: die Suburbanisierung. Sie beinhaltet die Auflösung der Gestalt der europäische Stadt. Die Kernstädte verlieren Bevölkerung, Arbeitsplätze und sogar die Gründungsfunktion der europäischen Stadt, den Handel. Anscheinend benötigen moderne Gesellschaften nicht die Form räumlicher Zentralität, die im Gefälle von der Stadtkrone zur Peripherie der europäischen Stadt eine so eindrucksvolle Gestalt gewonnen hatte. … Die dichte, vielfältig gemischte europäische Stadt als politisches, ökonomisches und geistiges Zentrum der Gesellschaft, materialisiert in der Stadtkrone von Rathaus, Markt und Kirche wäre also ein historisch gewordenes Modell von Stadt.“ (2)

Die Wahrnehmung der Stadt
Die Wahrnehmung der Stadt ist also das Thema, „der zeitgenössischen Stadt“, möchten wir hinzufügen, und das ist dann nicht mehr nur das alte Zentrum. Es ist die Stadtregion in der wir uns bewegen, die urbanisierte Landschaft mit seinen vielfältigen Problemen aber auch Möglichkeiten.
Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Susanne Hauser sieht die Frage nach der Wahrnehmung, nach dem ästhetischen Zugang zu diesen Gebieten, die wir heute als „Zwischenstadt“, als Agglomerationen halb städtischen, halb landschaftlichen Charakters ansehen, als problematisch: „Das Sehen der Agglomeration, der Stadtlandschaft steht heute immer noch in seinen Anfängen. Auch wenn die Auswahl dessen, was man dort zu sehen bekommt, mittlerweile relativ klar ist. Gewerbegebiete, urbane Zonen mit Siedlungen verschiedenster Art, Handelszentren und Industriegebiete, Freizeitanlagen wie Sporthallen und Discotheken, Flughäfen, Einkaufs- und Entertainmentzentren, die sich in nicht offensichtlich geordneter und auch nicht auffällig koordinierter Weise um die Städte oder kleineren Kerne herum ausgebreitet haben. Dazu kommen Felder, Wiesen, Tankstellen, Brachen, Militärgelände, Waldstücke, gelegentlich ein Schloss, gelegentlich ein Klärwerk. Jeder dieser Teile – und das ist eine der irritierenden Eigenschaften – scheint sich gegen die anderen zu sperren und einzeln zu leben. Er wirkt autistisch. Verbunden mit anderen Teilen und getrennt von ihnen ist er durch Straßen oder Schienen. Diese definieren die Bewegungsmöglichkeiten von einem der Teile zu einem anderen. Von einem Funktions- und Aktivitätsort zum nächsten, von der Wohnung zum Arbeitsplatz zu Freizeitanlagen. Die Befahrung der Wege führt durch Zwischenräume, die als eigene Wahrnehmungsgegenstände nicht in Betracht kommen, sei es, weil sie zu heterogen sind, weil sie an Orten vorbei führen, denen keine interessierte Wahrnehmung gilt..“ (3)

Die Stadt als hochkomplexes Gefüge, und das noch mehr, als es nicht mehr die traditionelle Stadt ist. Es liegt also nahe, für eine Diagnose ein ebenso komplexes Instrument zu nutzen: die Mittel der aktuellen Kunst. Gerade durch die Vielfalt der Darstellungs- und Ausdrucksformen lässt sich die Vielschichtigkeit des Themas zeigen, und noch mehr, wenn eine Gruppe von Künstlern mit unterschiedlichen Blicken und unterschiedlichen Techniken an das Thema herangeht. Denn – so noch einmal Susanne Hauser – „Es entstehen zur Zeit nicht eines, sondern es entstehen viele Bilder von dem, was Stadt und damit auch Urbanität, Urbanisierung vermutlich sind, was sie sein sollten oder werden könnten. Sie dienen der Betrachtung und dem Kommentar wie der Erzeugung von Städten. Sie vermitteln Perspektiven und Standpunkte, sie bieten ein teils vernetztes, auf jeden Fall vielfältiges Wissen darüber an, wie Städte zu begreifen und dann zu beeinflussen oder herzustellen sind. Diese Bilder präsentieren Wissen, Konzepte, Definitionen und Technologien des Blicks und zeigen – nicht was technisch sichtbar ist, sondern das, was in verschiedenen Bezügen als relevant ausgesondert werden und sichtbar sein soll.“ (4)

Die Stadt war in der jüngsten Zeit zunehmend Thema in der zeitgenössischen Kunst. Das zeigt die Durchsicht der Ausstellungen etwa in Mitteleuropa in den letzten Jahren: sei es, wenn das Witte de With Center for Contemporary Art in Rotterdam in Zusammenarbeit mit den Städten Belgrad und Minneapolis untersucht, wie sich globale Entwicklungen auf lokaler Ebene manifestieren, sei es, wenn der Kunstverein Hamburg in „Mapping a City: Hamburg Kartierung“ die „weißen Flecken“ der Stadt aufzeigt, sei es, wenn der Württembergische Kunstverein in einem Internetprojekt einen subjektiven Blick auf Wohnorte vornimmt, oder das Projekt des Langenhagener Kunstvereins mit dem Titel „Neue Räume schaffen“ oder auch das Thema der letztjährigen Biennale von Valencia „Time, Art and Architecture. The Transformation of the Contemporary City“ – um nur einige Beispiele zu nennen, die sich beliebig fortsetzen ließen.

Das Feld – der Stadtraum – Tendenzen
Für die Stadtplanung ist die Verstädterung natürlich längst ein vertrautes Phänomen. 70 % der Bevölkerung in Mitteleuropa lebt mittlerweile in urbanisierten Landschaften und in Landshut ist man da mittendrin: die Stadterweiterungen Münchnerau, die Ausbreitung der Stadtrandgemeinden, die planerischen Aktivitäten im Isartal Richtung Moosburg und Dingolfing sind ein beredtes Zeugnis. Man hat sich sein Haus in Bruckberg gebaut, fährt zur Arbeit nach München, kauft ein in Kronwinkl oder Ergolding und fühlt sich ganz als Landshuter, wenn es um die Kultur oder den EVL geht.

Urbanität als Lebensweise ist nicht mehr an die Stadt gebunden sondern ubiquitär geworden. Doch dies muß nicht gleich den „Tod der Stadt“ bedeuten, verweist vielmehr auf eine Krise, auf einen Umbruch der Stadt und auf die Notwendigkeit einer Revision der Begrifflichkeit.
Als stadtauflösende Kräfte gelten in der Fachdiskussion Einflüsse durch die Globalisierung, durch die Digitalisierung und durch die Entgrenzungen (wirtschaftlicher und ökologischer Natur). Globalisierung meint die zunehmende Dynamik und Intensität internationaler Wirtschaftszusammenhänge durch die seit Mitte der Achtzigerjahre stark gestiegenen Auslandsdirektinvestitionen und die Herausbildung transnationaler Wertschöpfungsnetzwerke. Mit Digitalisierung werden die Potenziale und Konsequenzen der neuen Informationstechnologien, insbesondere der globalen Informations- und Kommunikationsnetzwerke angedeutet. Enträumlichung und Virtualisierung sind die Folgen dieser Entwicklung, die sich hier abzeichnet und bereits Spekulationen über die räumliche Auflösung der Stadt ausgelöst hat. Als dritte Kraft wird von der Stadtökonomie ein Veränderungsprozeß in der Wirtschaft genannt, den der Stadt- und Regionalökomom Dieter Läpple „Entgrenzungsprozeß“ nennt und als „tiefgreifenden Wandel der Unternehmensstrukturen, der Arbeitsorganisation sowie des Verhältnisses von Arbeitswelt und Lebenswelt“ darstellt, der mit den Konzepten der „Entgrenzung“ und „Verflüssigung“ beschrieben wird.
Doch hier verweist Läpple auf ein Paradoxon: „Gerade in einer Situation, wo Unternehmen sich Kapital und Güter, Information und Technik weltweit per Mausklick beschaffen können, ist ihre spezifische Wettbewerbssituation vielfach von der jeweiligen städtischen und regionalen „Einbettung“ abhängig. Diese lokal gebundenen Wettbewerbsvorteile beruhen … auf der Konzentration von hoch spezialisierten Fähigkeiten und Kenntnissen, Institutionen, Konkurrenten sowie verwandten Unternehmen und anspruchsvollen Kunden. Geografische, kulturelle und institutionelle Nähe führt zu privilegiertem Zugang, engeren Beziehungen, kräftigeren Anreize und weiteren Produktivitäts- und Innovations-vorteilen, die sich schwerlich aus der Ferne nutzen lassen.“ (5)
Kein Wunder, wenn die digitalen Städte gescheitert sind, die in den Neunziger Jahren im Boom der Hi-tech-Hypes zunächst große Erwartungen hervorriefen, um dann zumeist im Chat-Geplapper zu enden. Digitalisierung und Virtualisierung, Cyberspace und Hyperrealität – die Kulturanalytiker überschlugen sich förmlich in den Extrapolationen. Aber darin ein zentrales Bild – die Stadt: Analogien des Urbanen werden stets dafür bemüht bzw. drängen sich auf, sobald sich Soziales verdichtet. Doch – so der Münchner Medienphilosoph Florian Rötzer – „Telepolis ist kein unschuldiger Ort jenseits der Welt. Ebenso verankert in der wirklichen Welt wie die Menschen mit ihren Körpern, wirkt die Ordnung der neuen Welt auf die alte zurück… Die Rede von der Ortlosigkeit, von der Vernichtung des Raums täuscht nur darüber hinweg, dass nicht nur im Cyberspace neue Räume, neues Eigentum und neue Machtformen entstehen, sondern dass diese sich auch im realen Raum abbilden.“ (6)

Konstruktion des Urbanen
Doch das Scheitern der Cyber-Cities ist nur eine Seite der Entwicklung; eine andere das Konzept der Soziologen von der Konstruktion des Urbanen bzw. die soziale Konstruktion des Raumes, zu der natürlich die Dynamik der Entwicklung bei den technischen Medien entscheidend beitragen. Der Grazer Architekt Harald Saiko etwa beschreibt das „Ideale Wohnen in der Stadt des 21. Jahrhunderts“ so:
„Nimmt man das Haus als Ausgangspunkt, als Mittelpunkt der darin lebenden Stadtbewohner, kann die Struktur, das Funktionieren der Stadt an deren täglichen Handlungen nachvollzogen werden. Die Bewohner schaffen sich ihre Stadt anhand der Ziele, die sie innerhalb einer zumutbaren Zeit erreichen können. Das Muster, das diese Zielpunkte bilden, stellt für die betreffenden Personen die Stadt dar. Je größer die Zahl der Zielpunkte, um so reicher und vielfältiger ist die Stadt für die Bewohner. Diese Stadt ist eine Stadt à la carte.“ (7)
Dieser Raum der Alltagsrealität ist für den Berliner Architekten und Publizisten Kai Vöckler „subjektives Territorium“, ein „Netz aus sozialräumlichen Handlungsmustern zwischen Wohnung und Arbeit, Einkaufen und Freizeit. Dieses Netz hat längst die kommunalen Grenzen überschritten und verknüpft in Form von Wahrnehmungssequenzen weit auseinanderliegende Orte, bildet eine Stadtkonstellation, die in sich beweglich ist und sich nicht unabhängig von einer mobilisierten Wahrnehmungsperspektive erschließt.“ (8)
Weiter Kai Vöckler: „Die räumliche und funktionale Struktur der Stadt folgt keinem idealistischen Prinzip und auch keinem einheitlichen und kontrollierbaren Bild. Die Stadt ist eher als ein Organisationsfeld zu verstehen, wo sich Inseln für verschiedene Gemeinschaften und Wohnvorstellungen bilden, – oft nur temporär. Wie auch Bindungen an den Ort immer kurzfristiger werden. Diese Nutzungsdynamik beschränkt sich nicht auf das Objekt; sie findet großräumig statt. Insofern kann man heute von einem permanenten Stadtumbau sprechen, der sich insbesondere auf das Umland bezieht.“ (9)
In diesen Raum implementiert ist das Netzwerk der Neuen Medien, das den realen Raum in den virtuellen öffnet: „Aber nicht nur die immer leistungsfähigere Transporttechnologie verstärkt die Beweglichkeit des Raumgefüges, – auch die Massenkommunikationsmittel lassen die Stadt beweglich werden. Sie kann andere Orte in sich aufnehmen. Mit einem Schalterdruck stellen sich jederzeit neue Raumanschlüsse her. Die Stadt hat an Komplexität und Mehrdeutigkeit gewonnen. Diente der Ausbau der Infrastruktur vom Beginn der Industrialisierung bis in die 60er Jahre zunächst der Integration und der Zusammenfügung der Stadt, so kehrte sich die Wirkung seit den 60er Jahren. Mit dem Ausbau auf regionaler und nationaler Ebene wurde die Stadt fragmentiert und partikularisiert. Jeder Ort kann nun zum Zentrum werden.“ (10)

Reflexion des Raumes
Zwischen diesen Polen, der Fragmentarisierung der Stadt und der Tendenz zur „Einbettung“ oszilliert also unser Sehen. Das Wiederspiegeln der Stadt in ihrer aktuellen Situation: Impulse, Fraktale – Blicke auf die Stadt von außen und von innen, Blicke auf diesen Raum und damit auf den urbanen Raum schlechthin. Dies ist die Schicht, die von den beitragenden Künstlern geleistet wird. Eine weitere wäre der Prozesscharakter des Projekts im Zusammenhang mit der Öffnung des Projekts zu einem temporären öffentlichen Raum (website) und schließlich als dritte Schicht die Rezeption: das Einbringen der Eigenerfahrung des Betrachters (in Richtung soziale Plastik). Es wird sich zeigen, wie sich die Region in dieser Reflektion erkennt.
Im Netzwerk der Kommunikation gilt uns die Stadt als Urbild und Wegmarke.
Johann Haslauer
Anmerkungen

(1) Walter Siebel, Strukturwandel der europäischen Stadt. In: Grazland 100 % Stadt, Dokumente zur Architektur 17/18 / mit Texten von Susanne Hauser, Ernst Hubeli, Michael Koch, Michael Müller, Harald Saiko, Ulrich Schwarz, Walter Siebel, Harald Sükar, Kai Vöckler, Alexa Waldow-Strahm u.a. Haus der Architektur Graz 2003, S. 16
(2) dto. S. 21
(3) Susanne Hauser, Stadt ohne Bild. In: Grazland 100 % Stadt a.a.O. S. 106
(4) Susanne Hauser, Spielsituationen. Über das Entwerfen von Städten und Häusern. International Flusser Lections Köln 2001
(5) Dieter Läpple, Die Auflösung städtischer Strukturen und die Neuerfindung des Städtischen. In: Franz Oswald und Nicola Schüller (Hsg.), Neue Urbanität – Das Verschmelzen von Stadt und Landschaft. gta Verlag ETH Zürich 2003, S. 158 f.
(6) Florian Rötzer, Telepolis ist nicht nur ein Traum. In: Stefan Iglheut, Armin Medosch, Florian Rötzer (Hsg.), Stadt am Netz. Ansichten von Telepolis. Mannheim 1996, S. 22
(7) Harald Saiko, Ideales Wohnen. In: Graz 100 % Stadt a.a.O., S. 103
(8) Kai Vöckler, Stadt nach dem Verschwinden der Stadt. In: Graz 100 % Stadt, a.a.O. S. 156
(9) a.a.O. S. 158
(10) a.a.O. S. 168