Ingrid Flohry | Doris M. Wuergert

wirklich unwirklich

wirklich unwirklich

Malerei, Installation, Fotographie, Film

Eröffnung: Freitag, 26. Januar 2007, 20 Uhr
Einführung: Heinz Schütz, München
Ausstellungsdauer: 26. Januar – 18. Februar 2007
Do – So 14 – 17 Uhr

 

Ingrid Flohry und Doris M. Wuergert


In den Arbeiten von Ingrid Flohry und Doris M. Würgert liegt eine Spannung zwischen Objektivation und Fiktion, dem Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem, der Rückkopplung von Virtuellem und Realem. Es geht um die Verunsicherung aller medial suggerierten Geschichten von der Wahrheit – auch von der Wahrheit der Bilder.
Die Installation Doris Würgerts besteht aus zwei gegenüber an die Wand gebeamten Videoprojektionen: Sprechende, aber stumme Münder. Junge und alte, weibliche und männliche Lippenpaare artikulieren Worte, deren Bedeutung auch nicht von der akustisch wahrnehmbaren Tonmontage enthüllt wird. Die Folge ist: Das Sprechen zeigt sich als körperlicher Akt; das Gesprochene – das Lügengedicht “Dunkel war’s der Mond schien helle“ – bleibt verborgen. Und selbst dann, wenn das Gesagte hörbar wäre, entpuppte sich sein Sinn als Unsinn – offensichtlich muss, was verbal verstanden wird, nicht verständlich, sprich: vernünftig sein.*
trotz allen Bemühungen um rationale Durchdringung der Ursachen und Bedingungen unserer individuellen wie gesellschaftlichen Existenz eine ganze Welt existiert, die sich dem begrifflichen Zugang entzieht, die uns aber ebenso nachhaltig prägt wie jene, die wir durchschauen, ist der Ausgangspunkt der Bilder und Objekte von Ingrid Flohry.

Wiederkehrende Motive wie Turm, Labyrinth und Tunnel beschreiben den Eintritt, die planmäßige Darstellung und die Durchdringung eines Teils des Weges durch diese Welt, auf dem Transformationen der Wahrnehmung stattfinden, deren Ergebnisse sich etwa in Form von Schießscheibe und Revolvertrommel manifestieren.

Ingrid Flohry

Ein Oxymoron, also eine Sprachfigur, welches auf dem Gegensatz zweier widersprüchlicher Begriffe beruht, bildet den Titel dieser Ausstellung:
„WIRKLICH UNWIRKLICH“
Es geht also um die Spannung zwischen dem, zumindest scheinbar, Objektiven und der Fiktion, dem Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem, der Rückkopplung von Virtuellem und Realem.

Allerdings steht zunächst im Mittelpunkt der Ausstellung das Alltägliche, das uns scheinbar so Vertraute, ja das beinahe schon Banale: die Krawatte, der Trichter, der Tunnel… – wobei der Tunnel durchaus bereits eine zwiespältige Besetzung hat zwischen Begrenztheit und Flucht, zwischen Beklemmung und Ausweg.
Ingrid Flohry gestaltet die eng begrenzten Tunneleinblicke in einer flüchtig-delikaten Malweise mit Aquarellfarbe, was unserer Erwartung widerspricht, denn die meisten von uns kennen solche Ausblicke von den ersten Computerspielen, also über die mediale Vermittlung. Wo aber dort die vollmundige, aber falsche Versprechung lautet: „What you see is what you get!“ ist bei Ingrid Flohry das Sichtbare noch lange nicht das Objektive. Erst die Vorstellungskraft des Betrachters entfesselt die Sogwirkung des Bildes, die ihn in ihre Dynamik hineinzieht und auf einen Weg, eine Reise schickt, in der die Ebene der rationalen Durchdringung von Ursachen und Bedingungen verlassen wird. Dann werden die Trichter, wie der Kaninchenbau bei Lewis Caroll, zu Eingängen in eine Welt, die sich dem begrifflichen Zugang entzieht, die uns aber ebenso nachhaltig prägt wie jene, die wir durchschauen.
Hier führen die Dinge ein Eigenleben: Krawatten etwa schlingen sich umeinander, bilden Muster, spielen mit einer Kugel, formen sich zu Zeichen, die sich nicht deuten lassen. Der spielerische Eindruck enthält so zugleich etwas Befremdliches, und nicht erst seit einem kürzlichen Welt-Ereignis wissen wir, dass sich Schlingen nicht nur um Kugeln, sondern auch um einen Hals wickeln lassen.

Nun war es schon immer das Bemühen jeglicher Zivilisation, die Grenze zwischen Chaos und Ordnung, zwischen der wildwuchernden Natur und der gestalteten Kultur zu errichten und zu verteidigen, und es ist Aufgabe der Kunst, diese Grenze fließend zu halten, auf dieses Jenseitige, Andere, Transzendente hinzuweisen. Unglaubliche 232 Knoten weist ein britisches Krawattenhandbuch für dieses einmal gefaltete schmaleTuch auf, wobei das einfache, wilde Herumwickeln nicht verzeichnet ist.
Wenn selbst ein solches Utensil schon einer solchen Bändigung bedarf, wie viel mehr dann die Bereiche, die noch unzugänglicher in uns selbst liegen.
Unser Aggressionspotential etwa wird kanalisiert durch die Einrichtung von Schützenvereinen, die nun ihr Projektil auf Schützenscheiben abfeuern und danach ihre Waffe wieder brav in die dafür vorgefertigten Stanzungen stecken.
Aber all die Futterale, Etuis, Strukturen und Ordnungen, die das Wuchernde in Form bringen, das Befremdliche in den Griff bekommen, dem Bedrohlichen kontrollierbare Orte zuweisen sollen – sie sind in der Welt, in die uns Ingrid Flohry führt, unwirksam. Hier verspüren wir eine beinahe surreale Bedrohung durch die Dinge, wie in unseren Albträumen verlassen sie ihre ihnen zugewiesenen Ordnung, sprengen sie ihre Dimensionen und gewinnen, wie die Revolvertrommel, eine traumhafte Präsenz, die uns in der Schwebe zwischen schauderndem Zurückweichen und unwiderstehlicher Anziehung halten.
Nicht zuletzt sind die Arbeiten Ingrid Flohrys auch eine Reflexion des künstlerischen, kreativen Prozesses schlechthin; auch dieser entwickelt, wie ein Tunnel, wie ein Labyrinth einen schwer zu widerstehenden Sog; es ist zwar nicht klar, wo er hinführen wird, was einen um die nächste Biegung erwartet, doch gibt es keinen Irrweg, keine Sackgassen, sondern eine dynamische Führung, der immer eine zwingende Folgerichtigkeit zugrunde liegt.

Und wenn das Labyrinth im tragbaren Sperrholzkasten auf dem Deckel die Aufschrift „Non Vego Unde Esca“ – „Ich sehe keinen Ausweg“ trägt, so ist dies ein beinahe noch schöneres Oxymoron als der Titel der Ausstellung „wirklich unwirklich“.
Was wirklich ist angesichts aller medial suggerierten Geschichten von Wahrheit und Wirklichkeit, das ist das Thema dieser Ausstellung. Wenn man sich das Einladungskartenmotiv betrachtet, so erinnert es an unsere alten pragmatischen Vorfahren, die die Wirklichkeit als „an Hund sein Schwoaf sein Schatten“ betrachteten, und sie waren damit nicht weit entfernt von den griechischen Philosophen, die eines Menschen Welt als den Traum eines Schattens bezeichneten. An die Schwelle dieses Traumes führt uns Ingrid Flohry – und darüber hinaus.

Franz Schneider

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